(Das Gespräch fand im Februar 2018 in Schopfheim statt)
Der einzelne Mensch, das einzelne Wort
Interview mit dem Dichter und Coach Wernfried Hübschmann
Heinz Scholz
Wernfried Hübschmann stellte ich einige Fragen zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit und seinem „Brotberuf“ als Moderator, Coach und Sprecher. Er hat sich sofort für das Interview bereit erklärt. Vielen Dank dafür!
Herr Hübschmann, Sie publizieren seit 1980 Gedichte, Prosastücke und Essays. Woher nehmen Sie die Ideen und die Motivation für Ihre Werke?
Wernfried Hübschmann: Es sind ja nicht immer „Ideen“ im engeren Sinne. Sondern vielmehr Eindrücke, Wahrnehmungskonstellationen, Gedanken und Dinge, die von den „Flimmerhaaren“ (ein Begriff, den Gottfried Benn verwendet) herangefächelt werden und dann in mir weiterarbeiten. Selten ist eine Konzeptidee der Ausgangspunkt. Das ändert sich, wenn einmal der Anfang gemacht ist und ein Text sich fortbewegt, aus sich selbst herauswächst. Dann wird auch das Konzept deutlicher, die „Idee“, die Architektur, die dann eine formale Logik zeigt. Auch beim Schreiben von Gedichten ist es wichtig, dass sich der Autor danach richtet, was der Text „will“, was seine innere Richtung ist. Der Text weiß immer „mehr“ als der Autor. Der Dichter muss das unbedingt respektieren.
„Motivation“ bedeutet für einen Schriftsteller: Es gibt den Impuls, den immer wachen Antrieb für mich als Sprachmensch. Der Rest ist, wie überall, langer Atem und harte Arbeit.
In ihrem Buch „Wiesentalgedichte“ (2017) bringen Sie Texte aus einem reichen Fundus von Welt- und Naturbetrachtung und Begegnung mit einigen Orten des südlichen Schwarzwaldes. In dem poetischen und autobiographischen Essay „Dauernder Aufenthalt“ sind Heimat, Herkunft und Wohnen ein zentrales Thema. Was bedeutet für Sie „Heimat“?
W.H.: Es ist nicht so leicht, Ihre Frage zu beantworten, weil der Begriff „Heimat“ in meiner „Herkunftsfamilie“ Familie fast jeden Tag politisch verwendet wurde. Der Begriff ist für mich kompliziert und politisch kontaminiert. Meine Eltern sind Heimatvertriebene. Mein Vater stammt aus Westpreußen, meine Mutter aus dem Sudetenland. Heimat war bei uns zu Hause immer ein abwesender, verlorener Ort, eine „U-Topie“. Das Glück lag immer schon in der Vergangenheit. Die Eltern haben unseren Wohnort Donaustauf bei Regensburg sehr lange nicht als Heimat empfunden, sie erzählten immer von früher, draussen, drüben. Ich selbst bin etwa 20mal umgezogen, und da kam das Heimatgefühl nicht so recht auf. Vielleicht fürchtete ich unbewusst, etwas wieder zu verlieren, wie meine Eltern, wenn ich mir eine „Heimat“ suche. Die Sprache selbst würde ich als Heimat bezeichnen. Was ich auch sagen kann: Dort, wo es mir gut geht, da ist meine Heimat, ubi bene, ibi patria, wie es lateinisch heisst.
Sie bringen in Ihren Gedichten viele konkrete Orte des Südschwarzwalds ins Spiel. Wenn Sie das zum Ausdruck bringen, müssen Sie doch bestimmt ein Heimatgefühl haben. Stimmt das?
W.H.: Sich heimisch zu fühlen ist etwas anderes als „eine Heimat haben.“ Seit 2009 wohne ich mit meiner Familie in Hausen im Wiesental. Hier ist mein neues Zuhause. Der Begriff Heimat wird jetzt für mich stückweise zurückgewonnen, ganz langsam. Immerhin habe ich das Buch „Wiesentalgedichte“ genannt. Ich fühle mich hier sehr wohl und bin freundlich aufgenommen worden. Ich bin sehr gerne hier.
Nach langen Jahren in Regensburg und Berlin sind sie im Hebeldorf Hausen (Wiesental) angekommen. Welche Bedeutung hat Johann Peter Hebel für Sie?
W.H.: Eine wachsende Bedeutung! Als Kind und Schüler habe ich Hebel kennengelernt. Hebel war mit „Kannitverstan“ oder dem „Unverhofften Wiedersehen“ Schulstoff in den 60er und 7oer Jahren. Ich habe diesen spezifischen, diesen sanften Hebel-Ton immer gemocht. Seitdem ich hier bin, habe ich mich noch intensiver mit Hebel beschäftigt, umso mehr schätze ich ihn.
Hebel wird als „Volksschriftsteller“ bezeichnet. Er hat ja viele Werke geschaffen, die weit über diesen lokalen-bodenständigen Aspekt hinausgehen. Wie würden Sie Hebels Werke bezeichnen?
W.H.: Wir unterschätzen Hebel immer noch, obwohl Goethe, Kafka, Canetti und andere ihn sehr gelobt haben. Ich würde sagen, Hebel ist der Begründer der alemannischen Hochliteratur. Im Falle der Kalendergeschichten würde ich Hebel durchaus als Volksschriftsteller im Sinne der Zeit bezeichnen. Und er war Kirchenmann, Politiker, Schulleiter. Ein wahres Vorbild an Fleiß und Vielseitigkeit!
Hat Hebel Einfluss auf Ihre eigenen Arbeiten?
W.H.: Vielleicht indirekt, ich spüre eine Wahlverwandtschaft. Und er kommt in zwei Essays ausdrücklich vor. Zurzeit arbeite ich u.a. an einem Aufsatz über Hebels Stil, den er in seinen Kalendergeschichten anwendet. Ich möchte herausfinden, mit welcher Raffinesse und welchen Stilmitteln er seine gewinnende und zugleich aufklärerische Wirkung erzielt. Es ist ja eine vortreffliche empathisch-pädagogische Wirkung. Er war ein Mensch, der nicht streng den Finger hob, er sagte nicht Ihr sollt!, Ihr müsst! oder Wenn ihr nicht hört, dann …. Sondern: „Aufgepasst, ich erzähle Euch eine Geschichte…“. Sein Zeigefinger auf der berühmten Vignette ist ein liebevoller, einladender Gestus. Hebel war sehr menschenfreundlich, er hatte eine humanistische Grundhaltung. Er ist ein aufgeklärter Schriftsteller, er wollte die Menschen „bessern“. Ich finde, dass er heute noch lesenswert für alle Generationen ist. Ich verehre ihn, wie gesagt, mehr und mehr.
Sie übermittelten mir einen 22-seitigen Ausdruck mit dem Titel FÄDEN. Das sind Notizen, Flugfäden, Fundstücke, Treibgut. Es sind geistreiche, knapp formulierte Gedanken, z.B.: „Ich sammle Bewunderungspunkte, die anderen bewundernd“. Was bedeuten diese Notizen für Sie? Sind das Ideen für zukünftige Werke?
W.H.: Nein, es ist ein eigenständiger Strang in meiner Arbeit. Ich verwende die FÄDEN nicht als Steinbruch für andere Werke. Ich gehe mit diesen Fundstücken querfeldein. Sie sind eine Art Kollateralnutzen von Lektüre und täglichem Nachdenken und Probieren und ersetzen das Tagebuch. Vorbild ist für mich besonders Georg Christoph Lichtenberg, der seine „Sudelbücher“ mit spitzer Feder geschrieben hat. Es waren stilistisch glänzende Notizhefte, Analysen und Beobachtungen, die der Mathematiker, Physiker und Philosoph Lichtenberg hinterließ. Die Hefte beinhalten aphoristische Einfälle und naturwissenschaftliche Kurznotizen. Die „Sudelbücher“ betrachte ich respektvoll als eine Art Referenz.
Das Manuskript „Das Gedicht am Ende des Tunnels“ beinhaltet mehr als zwanzig Essays zu Literatur und Kunst. Wann wird das etwa 250-seitige Werk voraussichtlich erscheinen?
W.H.: Das von mir angegebene Jahr 2018 ist wohl zu optimistisch, da ich noch keinen Verleger habe. Das Buch beinhaltet Aufsätze, poetologische Essays zu Dichtung und Literatur sowie Notizen zur Kunst und bildenden Künstlern. Ich arbeite an diesen Themen ständig weiter. Den Titel würde ich aber gerne beibehalten, wenn der Verlag einverstanden ist.
Herr Hübschmann, seit über dreißig Jahren sind Sie als Organisationsberater, Kommunikationstrainer, Moderator und Coach sehr erfolgreich. Ihre klare Haltung und Empathie, Erfahrung und Methodik werden immer sehr gelobt. Welche Arbeitsformate und Methoden wenden Sie an?
W.H.: Ich arbeite als Coach und Begleiter von Einzelpersonen, als Trainer, Moderator und Berater für Unternehmen. Das ist eine großartige Sache! Ich habe schon als Schüler und Student klar gesehen, dass ich mit ernsthafter Dichtung wenig Geld verdienen würde. Ich wusste, dass ich einen Brotberuf brauche, den ich natürlich auch liebe und sehr gerne ausübe. Wenn Bekannte sagen: „Schreib doch mal einen richtig fetzigen erotischen Roman“ – da verdienst Du richtig Geld – dann winke ich ab. Ich würde meinen Ruf ruinieren. Und ich habe Null-Bock auf Trivalität und faule Kompromisse! Die Kunst ist unerbittlich, vor allem gegenüber dem Autor. Das muss so sein.
War das nicht ein schwieriger Balanceakt über die Jahre?
W.H.: Allerdings, eine Achterbahnfahrt, ein innerer Konflikt, ein „Doppelleben“ (um noch einmal Benn anzuführen) mit vielen persönlichen Krisen! Ich denke oft, dass beide Kernprozesse, der sprachliche und der soziale, viel Ähnlichkeit miteinander haben. Ich habe immer deutlicher gespürt, dass ich durch meine schriftstellerische Arbeit und in der Arbeit im sozialen Prozess mit Menschen, Gruppen, Unternehmen oder durch Vorträge, wie kürzlich der Vortrag „Krisenfestigkeit und Resilienz“ in Schopfheim, die Menschen gut erreichen kann. Es sind dieselben Strukturen im Sozialen, im Politischen, im Ökonomischen und im Künstlerischen. Immer wirken geistige Kräfte, die es auszuhalten, zu verstehen, zu bearbeiten und zu gestalten gilt. Als Coach und Berater steht für mich der einzelne Mensch im Mittelpunkt stellen. In der Literatur geht es um das einzelne Wort.
Was halten Sie von den Mental-Coaches, die ihre Auftritte als Show gestalten und dabei „Tschaka-Tschaka!“ rufen und die Zuhörer zunächst faszinieren.
W.H.: Nichts! Ich möchte so etwas nicht. Diese Methoden sind auch eigentlich überholt. Uns ist klar, dass das Strohfeuer-Effekte sind, eine Art Massenphänomen (siehe Canettis „Masse und Macht“), das ich sehr skeptisch sehe. Ich will keinen Europapark für Führungskräfte! Wichtig ist doch, Menschen und Organisationen ernst zu nehmen und sie auch mit allen unbequemen Fragen zu konfrontieren, z.B. „Was ist los in Ihrer Firma?“, „Was ist der Zweck Ihres Tuns?“, „Was ist Ihr Beitrag zur Zu-kunft?“, „Was kann ich für Euch tun?“. Veränderungen sind überall notwendig, unausweichlich. Sie zuzulassen und sogar zu befördern, ist oft unglaublich schwer.
Sie haben als Coach die Erfahrung gemacht, dass es vielen Menschen nicht gut geht. Warum ist das so? Welche Beobachtungen haben Sie gemacht?
W.H.: Viele Menschen stecken in ihren Mustern fest, im Alltag, in der Routine, in der „erlernten Unfähigkeit“. Es braucht starke Impulse und einen Weckruf, um sich den eigenen Transformationen zu stellen. Oft braucht es dafür Krisen, Krankheiten, schmerzhafte Grenzen. Da ist es gut, jemanden zu haben mit der nötigen Distanz, der solche Prozesse versteht, neutral ist und professionell begleiten kann.
Würden Sie unseren Lesern zum Schluss noch verraten, was Ihre Pläne für die Zukunft sind?
W.H.: Ich werde nicht mit 64 Jahren aufhören zu arbeiten, sofern meine Gesundheit das zulässt. Ich habe viele schriftstellerische Pläne. Es liegen zwei fast fertige Bücher auf dem Tisch, viele Kindertexte, ich arbeite auch wieder mehr journalistisch und schreibe Kolumnen. Ich bin fokussierter als früher und weiß schneller, wo ich den Hebel ansetzen muss. (lacht)
Wie kommen Ihre Schwestern (Wernhilt, Wilgard) und Sie (Wernfried) zu ihren nicht alltäglichen Vornamen?
W.H.: Das ist schnell erklärt. Mein Vater war ein sehr großer Bewunderer und Kenner der Werke Richard Wagners. Unsere Vornamen stammen aus einem etwas fragwürdigen pan-germanischen Kosmos. Für mich hat es wenigstens den Vorteil, dass mein Name ein Unikat ist. Verwechslungen sind nicht möglich.
Herr Hübschmann, vielen Dank für das Gespräch, und alles Gute!
W.H.: Ich danke Ihnen, Herr Scholz!